Vor ihrer Grand-Prix-Teilnahme kannte man die Les Humphries Singers europaweit als erfolgreiche, multikulturelle Hippiegruppe, die mit ‘Mamaloo’ oder ‘Mexiko’ und ähnlichen Titeln eine Latte respektabler Hits vorweisen konnte. Danach verschwanden sie in der Versenkung. In Den Haag durften sie allerdings auch nur in deutlich dezimierter Zahl, zu sechst (darunter: Jürgen Drews [DVE 1990]), auftreten, was ihrer Bühnenpräsenz gar nicht gut tat. Dazu kam der lendenlahme Siegel-‘Sing Sang Song’, sein erster Grand-Prix-Beitrag fürs Heimatland und ein wahrlich missratener Auftakt. So reichte es wieder nur für einen, diesmal berechtigten, hinteren Platz.
Es gewann eine andere Formation, die ein extrem gemäßigtes Hippietum allenfalls durch lange Haare, große Stoffrosen und aufgeknöpfte Hemden andeutete, die konservativen Juroren jedoch mit dem Tragen von Anzügen versöhnte: die auf Startplatz 1 antretenden britischen Brotherhood of Man forderten ‘Save your Kisses for me’ und landeten mit weltweit über sechs Millionen verkaufter Singles den aus kommerzieller Sicht ungeschlagen größten Eurovisionshit aller Zeiten. Sie tanzten zu ihrem belanglosen Liedchen mit der sofort wiedererkennbaren Alle-meine-Entchen-Melodie allerdings auch eine der simpelsten und synchronsten Choreografien, die man jemals auf einer Grand-Prix-Bühne bestaunen durfte. Dazu stellte sich im Schlussvers des Songs heraus, dass sich die Aufforderung zum Küsschenaufsparen an die dreijährige Tochter richtete. Soviel harmlos-familiäre Niedlichkeit kam an.
Und hoch das Bein!
Überhaupt erwies sich der diesjährige Song Contest als Fest der Gaukler. Das für die Schweiz anscheinend auf Lebenszeit gebuchte Trio Peter, Sue & Marc trat mit bunter Zirkusbemalung auf; die Direktoren gaben die benachbarten Österreicher Waterloo & Robinson, die ihren putzigen, inhaltlich in keiner Volksmusiksendung fehlplatzierten Heile-Welt-Schlager auf englisch vortrugen. Den schwergewichtigen Finnen Fredi (ESC 1967) begleiteten beim kultigen ‘Pump-pump’ (nein, kein Lied über kreditfinanzierte Erdölförderung) zwei zierliche Frauen in lachsrosa Kostümen. Zum suggestiven Titel des Refrains bumsten sie tatsächlich mit den Hüften aneinander: man wartete mit atemloser Spannung darauf, dass es eines der zarten Geschöpfe von der Bühne trüge. Was jedoch die Blonde nicht davon abhielt, derart enthusiastisch zu tanzen, als habe sie gerade die finnische Jahresproduktion an Ecstasy eingeworfen. Als Backgroundsänger fungierten, in ihren Bühnenklamotten kaum wiederzuerkennen, die countrygeigenbegeisterten Pihasoittajat vom Vorjahr.
Der Walfisch & die Flundern: Fredi & Friends
Jürgen Marcus, ins Luxemburger Schlagerasyl geflüchtet (bei uns wollte man ihn ja nicht), ruderte wie üblich wild mit den Armen und trug dazu eine Wallehaarfönfrisur, die nur durch die seinerzeitige Haarmode zu entschuldigen ist, und das gerade so eben. Für sein Fremdgehen strafte ihn die offenbar von nationalistischen Revanchisten bevölkerte deutsche Jury mit null Punkten ab. Das Publikum zeigte sich milder: die deutschsprachige Einspielung seines Beitrags mit dem autobiografischen Titel ‘Der Tingler singt für Euch alle’ verkaufte sich mittelgut (#46). Der enttäuschte Musicalsänger beklagte sich später, ein holländischer Tontechniker habe ihn unmittelbar vor seinem Auftritt hinter der Bühne als “Nazi” beschimpft und ihm die Lautstärke abgedrosselt. Bittere Ironie der Geschichte, dass so ein offen schwuler Schlagersänger und leidenschaftlicher Grand-Prix-Fan doppelt zum Opfer der Rechten wurde.
Unerreicht in der Kategorie “ausladende Gesten”: Jürgen Marcus
Den Vogel schoss die Norwegerin Anne-Karine Strøm ab: in einem hautengen Goldpailetten-Body steckend und mit einem schmalen Stirnband aus dem gleichen Material aufgebrezelt, toppte nur noch die überdimensionale, reich mit Strass besetzte Sonnenbrille dieses Outfit. Ihr musikalisch bereits die harten Prüfungen der Achtzigerjahre-Instantsongs vorwegnehmendes Lied ‘Mata Hari’ landete völlig zu Recht auf dem letzten Platz. Die gastgebenden Niederlande schickten mehrere alte Bekannte: Sandra Reemer (NL 1972) verpackte das melancholische ‘The Party’s over now’ zwar in flotte und gefällige Rhythmen, lieferte damit aber dennoch irgendwie den offiziellen Abgesang auf die von Katja Ebstein und Karina 1971 eingeläutete Phase des Aufbruchs und der Hoffnung. Eine noch länger zurückliegende Contesterfahrung konnte die Moderatorin Corry Brokken vorweisen: als Grand-Prix-Gewinnerin von 1957 und Letztplatzierte von 1958. Um dem Klischee als Tulpenland zu entsprechen, bekam jeder Interpret direkt nach dem Schlusston auf der Bühne einen Strauß original holländischer Treibhausware überreicht.
In the Disco: Mary Christy hängt anfangs etwas mit dem Text
Vom Zirkus in den Club, den Club, oh-oh: als moderate Vertreterinnen der Discowelle gaben sich die etwas spröde “Monegassin” Mary Christy mit dem sehr schönen, discogeigengeschwängerten Chanson ‘Toi, la Musique et moi’ und die zweitplatzierte Französin Cathérine Ferry, die singend bewies, dass auch eine Blondine durchaus bis drei zählen (und damit einen kontinentaleuropäischen Top-Ten-Hit kreieren) kann: ‘Un, deux, trois’. Über nicht weniger Schwung als der jedweder kafkaesken Gedankenschwere eine schroffe Absage erteilende und grundlose Fröhlichkeit zum Lebensstil erhebende französische Mitklatschschlager verfügte auch der hübsch choreografierte israelische Beitrag ‘Emor shalom’ des Mädchentrios Chocolate Menta Mastik. Nicht ganz die Ansammlung optischer Süßigkeiten (Schokolade, Minze, Kaugummi), die der Bandname versprach, aber dennoch eine nette Kibbuzdisconummer.
Wer braucht schon Kafka, wenn er die Discogeige hat?
Zwischen all das zirzensische Heile-Welt-Eiapeia und den drogeninduzierten Disco-Frohsinn mischte sich überraschend dann doch noch ein wenig politischer Anspruch. Nämlich in Gestalt des von zwei Mitgliedern der sozialistischen Partei Portugals geschriebenen Beitrags ‘Uma Flor de verde Pinho’, einer Liebeserklärung an das frisch aus den Fängen der Diktatur gerettete Land. Eine solche stellte auch das griechische ‘Panaya mou, Panaya mou’ dar. Diese musikalisch sehr gewöhnungsbedürftige Ode über die Schönheit Zyperns, gesungen von der optisch ein wenig an Juliane Werding erinnernden Interpretin Mariza Koch, die sich im tiefschwarzen Wallegewand gebärdete wie eine sterbende Schwänin, setzte sich mit der Teilannektierung der umstrittenen Urlaubsinsel durch die Türkei auseinander. Mariza soll deswegen Todesdrohungen erhalten haben. Kein Wunder, dass sie auf der Bühne ein bisschen unentspannt dreinblickte.
Bei allem Verständnis für den Wunsch der Griechen nach Protest: muss man das restliche Europa denn gleich mit strafen?
Die Rede war unter anderem von “Flüchtlingslagern” und “Napalm”. Woraufhin die Türken ihre Teilnahme zurückzogen und die Liveübertragung des Wettbewerbs an dieser Stelle unterbrachen, um stattdessen ihren Invasionsschlager ‘Mein Land’ zu zeigen. Was für das Bosporusland ebenso folgenlos blieb wie für die gegen das Keine-Politik-Mantra verstoßenden Griechen. Tja, damals verfügte die EBU noch nicht über schwedische Grand-Prix-Zensoren. Vielleicht fehlte auch nur jemand, der ihnen aus dem Griechischen hätte übersetzen können.
Eurovision Song Contest 1976
Eurovisie Songfestival. Samstag, 3. April 1976, aus dem Kongressgebäude in Den Haag, Niederlande. 18 Teilnehmerländer. Moderation: Corry Brokken.# | Land | Interpret | Titel | Punkte | Platz |
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01 | UK | Brotherhood of Men | Save your Kisses for me | 164 | 01 |
02 | CH | Peter, Sue & Marc | Djambo, Djambo | 091 | 04 |
03 | DE | Les Humphries Singers | Sing Sang Song | 012 | 15 |
04 | IL | Chocolate Menta Masti | Emor Shalom | 077 | 06 |
05 | LU | Jürgen Marcus | Chansons pour ceux qui s'aiment | 017 | 14 |
06 | BE | Pierre Rapsat | Judy et cie | 068 | 08 |
07 | IE | Red Hurley | When | 054 | 10 |
08 | NL | Sandra Reemer | The Party's over now | 056 | 09 |
09 | NO | Anne-Karine Strøm | Mata Hari | 007 | 18 |
10 | GR | Mariza Koch | Panaghia mou, Panaghia mou | 020 | 13 |
11 | FI | Fredi & Friends | Pump pump | 044 | 11 |
12 | ES | Braulio García Bautista | Sobran la Palabras | 011 | 16 |
13 | IT | Al Bano & Romina Power | We'll live it all again (Rivivrei) | 069 | 07 |
14 | AT | Waterloo & Robinson | My little World | 080 | 05 |
15 | PT | Carlos do Carmo | Um Flor de verde Pinho | 024 | 12 |
16 | MC | Mary Christie | Toi, la Musique et moi | 093 | 03 |
17 | FR | Cathérine Ferry | Un, deux, troi | 147 | 02 |
18 | YU | Ambasadori | Ne mogu skriti Svoju bol | 010 | 17 |